Über den Ukraine-Krieg, »grüne« Preistreiberei und den falschen Kurs der Linkspartei. Ein Gespräch mit Oskar Lafontaine
Interview: Jan Greve Der Krieg Russlands gegen die Ukraine dauert nun fast drei Monate. Die Antwort der Bundesregierung darauf lautete: aufrüsten und Waffen liefern. Stimmen Sie Kanzler Olaf Scholz zu: Erleben wir gerade eine »Zeitenwende«?Nein, das ist keine Zeitenwende – zumindest mit Blick auf die geopolitische Lage. Schon seit langem befinden wir uns in einer Phase, in der Russland und China militärisch von den USA eingekreist werden. Seit 20 Jahren weist Moskau darauf hin, dass die Ukraine nicht in die NATO aufgenommen werden darf. Das heißt, dass keine US-Raketen an der ukrainisch-russischen Grenze aufgestellt werden dürfen. Diese Sicherheitsinteressen wurden konsequent ignoriert. Das ist einer der entscheidenden Gründe für den Ausbruch des Ukraine-Kriegs.Die Regierung in Kiew könne ebenso wie die in Warschau oder Budapest souverän über einen NATO-Beitritt entscheiden, heißt es von seiten der westlichen Kriegsallianz. Dem ist nicht so?Das Argument, jeder Staat könne selbst entscheiden, welchem Bündnis er betritt, ist verlogen. Jeder weiß, dass die USA einen Beitritt Kubas zu einem Militärbündnis mit Russland niemals akzeptieren würden, ebenso wenig wie die Aufstellung von russischen Raketen an der US-Grenze zu Mexiko oder Kanada.
Letztlich geht es hier nicht um die Aufnahme in die NATO. Entscheidend ist die Frage: Können an den Grenzen einer Atommacht Raketen aufgestellt werden, die keine Vorwarnzeit haben? Das war schon in der Friedensbewegung der 80er Jahre ein großes Thema. Damals ging es um die Stationierung von Pershing-II-Raketen in der BRD, gegen die wir demonstriert haben. Deren Flugzeit bis Moskau hätte nur rund zehn Minuten betragen. Von der ukrainisch-russischen Grenze ist die Flugzeit noch viel geringer.
Wie kann aus Ihrer Sicht der Ukraine-Krieg beendet werden? Hierzulande wird immer lauter getönt, einen sogenannten Diktatfrieden Russlands werde es nicht geben.
Um diese Frage zu beantworten, müssen wir den Konflikt verstehen. Es lassen sich drei Phasen unterscheiden. Die erste war die NATO-Osterweiterung. Auch viele gewichtige Stimmen in den USA haben eindringlich davor gewarnt. Schon damals wurde vorausgesagt, ein solcher Schritt werde zu einem militärischen Konflikt mit Russland führen. Die zweite Phase begann mit der Entscheidung von Wladimir Putin, in die Ukraine einzumarschieren. Diesen Krieg verurteile ich, genauso wie ich ohne jede Einschränkung alle anderen völkerrechtswidrigen Kriege verurteile. Die dritte Phase, von der die deutsche Öffentlichkeit noch nichts mitbekommen hat, ist der beginnende Zermürbungskrieg von Joe Biden. Die 40 Milliarden Dollar, die der US-Kongress vergangene Woche hauptsächlich für Waffenlieferungen in die Ukraine bereitgestellt hat, sind ein Beweis dafür, dass die USA keinen Frieden wollen. Sie wollen ihren Rivalen Russland schwächen und sagen das ja auch offen.
Auch die hiesige Debatte dreht sich in erster Linie um immer neue Waffenlieferungen. Jahrzehntelang galt in der deutschen Außenpolitik der Grundsatz, dass in Krisengebiete keine Waffen geliefert werden. Haben Sie diesen Kurswechsel für möglich gehalten?
Im Laufe der vergangenen Jahrzehnte musste ich lernen, dass politische Überzeugungen immer wieder keinen Bestand haben. Dennoch hat mich überrascht, wie schnell ein solch zentraler Grundsatz über Bord geworfen wird. Unabhängig davon, ob die Waffen für die Ukraine nun aus den USA oder aus der EU kommen: Mit diesen Lieferungen wird der Krieg verlängert, immer mehr Menschen werden sterben.
Mittlerweile haben die Befürworter dieser Eskalationspolitik das Argument für sich gekapert und behaupten, der Krieg würde verlängert, lieferte man nicht immer mehr Waffen. Sie sind sich einig: Russland soll auf dem Schlachtfeld besiegt werden.
Diese Leute denken leider nur in den Kategorien Sieg oder Niederlage. Das Wichtigste aber, das Retten von Menschenleben, spielt offenbar keine Rolle. Wer nicht will, dass noch mehr Menschen sterben, muss gegen jede Verlängerung des Krieges und damit auch gegen jede Waffenlieferung sein. Das Argument, durch diese Aufrüstung würde man die Ukraine schützen, ist unglaubwürdig. Niemand kam auf die Idee, die von den USA überfallenen Länder mit der Lieferung deutscher Waffen zu unterstützen. Daran sieht man, wie verlogen es derzeit bei uns zugeht.
Neben den Waffenlieferungen reagiert der Westen mit Sanktionen gegen Russland. Es wird betont, alles, was unterhalb des unmittelbaren Kriegseintritts möglich ist, solle unternommen werden, um Russland niederzuringen. Die Außenministerin und Grünen-Politikerin Annalena Baerbock hat davon gesprochen, das Land werde ruiniert. Der Eifer, der sich hier zeigt, sucht seinesgleichen.
So ist es. Zumal die Sanktionen zunehmend auch den Menschen hierzulande schaden – vor allem denen mit geringen Einkommen, die ihre Energierechnungen nicht mehr begleichen können. Aufgrund der Dummheit der Grünen, der anderen Politiker der Ampelkoalition, aber auch der sie unterstützenden CDU/CSU verlieren deutsche Unternehmen an Wettbewerbsfähigkeit. Wir schießen uns ins eigene Knie. Die USA lachen wahrscheinlich über uns, weil sie von den Sanktionen kaum betroffen sind, ihr Flüssiggas jetzt in höherem Umfang in Europa absetzen können und ihre Waffenindustrie riesige Geschäfte macht.
Es ist nicht neu, dass die USA versuchen, einen Keil zwischen die BRD und Russland zu treiben. Sind die Vereinigten Staaten der Gewinner der jetzigen Situation?
Kurzfristig ja. Durch die NATO-Osterweiterung und die unüberlegte Entscheidung von Putin, den Krieg zu beginnen, haben die USA ihr Ziel, Russland und Deutschland gegeneinander aufzubringen, erreicht. Langfristig aber machen sie einen schweren Fehler, indem sie Russland auf die Seite Chinas drängen. Dadurch werden sie das Land stärken, das erklärtermaßen der Hauptrivale der USA ist. Auf der anderen Seite müssen wir feststellen, dass die Deutschen nicht dazu in der Lage sind, den eigenen Interessen entsprechend zu handeln. Statt dessen fügt man sich in der Rolle des getreuen Vasallen der USA selbst großen Schaden zu.
Wie würden Sie es einem unbedarften Wähler erklären, dass die Bundesregierung Politik gegen deutsche Interessen macht?
Entscheidend ist der Eintritt der Grünen in die Regierung. Seit dem Jugoslawien-Krieg und der Rolle des damaligen Außenministers Joschka Fischer war erkennbar, dass die Grünen der verlängerte Arm der USA im Bundestag sind. Sie unterstützen jede US-Entscheidung, wenn es um Kriege geht. Sie nennen sich Menschenrechtspartei, kennen aber nur die Verletzung von Menschenrechten durch Russland oder China. Dass die USA infolge ihrer Kriege für die meisten Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind, sehen die einäugigen Grünen nicht. Eine üble Rolle spielt dabei übrigens auch die Presse, die ebenso blind gegenüber den Kriegsverbrechen der USA ist und sich für die Kriegshetze einspannen lässt.
Die Bundesregierung verkündet in Person von Wirtschaftsminister Robert Habeck, ebenfalls Grünen-Politiker, relativ freimütig, »wir alle« würden künftig an Wohlstand verlieren. Teurer werdende Energie oder Lebensmittel seien nun mal der Preis, den wir zahlen müssten, um den Krieg zu stoppen. Wer bezahlt für die Politik der Regierung?
Habeck oder Baerbock können nur so auftreten, weil die Grünen die Partei der Besserverdienenden geworden sind. Wüssten sie noch um die Lebensbedingungen derjenigen, die geringe Einkommen haben, dann würden sie nicht so dumm daherreden. Letztendlich sind es diese Menschen, die die Zeche für die »grüne« Preistreiberei bezahlen werden. Längerfristig gehen Arbeitsplätze verloren. Der Bezug von preiswerter Energie aus Russland war ein großer Standortvorteil für die deutsche Wirtschaft. Der wird jetzt auf Betreiben der Grünen ruiniert. Und die deutsche Wirtschaft leistet zu wenig Widerstand dagegen.
Das Bewusstsein für die Folgen dieser Politik scheint bei den davon Betroffenen noch nicht in ausreichendem Maße entwickelt zu sein.
Nach meinem Eindruck wird jetzt einem größeren Teil der Bevölkerung bewusst, dass mit den Waffenlieferungen die Kriegsgefahr auch für Deutschland wächst und dass die Preise immer weiter steigen. Ich hoffe, dass die Folgen dieser falschen Politik erkannt werden und es zu Protesten und Gegenbewegungen kommt. Bedauerlicherweise sind viele Kriegsgegner der NRW-Wahl ferngeblieben. Davon haben die »grünen« Kriegstreiber profitiert.
Sie haben die Rolle der Medien hierzulande angesprochen. Angesichts der uniformen Berichterstattung der bürgerlichen Presse in bezug auf Russland fragt sich, wie ein relevanter Teil der Bevölkerung auf kritische Gedanken kommen soll.
Entscheidend ist, dass die Leute die Folgen dieser Politik zunehmend im Geldbeutel spüren. Zudem sehen mehr und mehr Menschen der andauernden Kriegshetze zum Trotz, welche Gefahren damit verbunden sind. Nicht zuletzt der Bundeskanzler selbst hat auf das Risiko eines sich ausweitenden Kriegs bis hin zu einem Nuklearschlag aufmerksam gemacht.
Neben Waffenlieferungen will die Bundesregierung den Verteidigungshaushalt drastisch erhöhen und ein sogenanntes Sondervermögen für die Bundeswehr im Grundgesetz verankern. Wo wird FDP-Finanzminister Christian Lindner den Rotstift ansetzen, um die Aufrüstung zu finanzieren?
Wenn es künftig darum gehen wird, die Verschuldung zurückzuführen, wird der FDP in erster Linie der Sozialhaushalt einfallen. Lindner wird die Interessen seiner Klientel, also der Besserverdienenden und der Wirtschaft, vertreten. Erstaunlich: Wenn es um die Energiepreise geht, handelt der FDP-Politiker gegen die Interessen der Wirtschaft. Würde er erkennen, welche Folgen die jetzige Politik für die deutsche Wirtschaft hat, müsste er mit dem Ausstieg der FDP aus der Koalition drohen.
Mit Blick auf Kriegs- und Verarmungspolitik der »rot-grünen« Bundesregierung unter Gerhard Schröder kann es nicht verwundern, dass es nun SPD, Grüne und FDP sind, die den Aufrüstungskurs vorgeben.
Mich hat das nicht überrascht. Man muss die Veränderungen sehen, die in in den Ampelparteien vorgegangen sind. Die SPD ist nicht mehr die Partei Willy Brandts, die für Frieden, Abrüstung und soziale Verbesserungen warb. Der aktuelle sozialdemokratische Kanzler Scholz befürwortet Aufrüstung und Sozialabbau. Die Grünen, die einst einen starken pazifistischen Flügel hatten, sind seit dem Jugoslawien-Krieg zu den größten Kriegstreibern in Deutschland geworden. Und die FDP hat niemanden vom Format der einstigen Außenminister Hans-Dietrich Genscher oder Guido Westerwelle. Genscher versuchte alles, um eine Politik zu verhindern, durch die ein auf Europa begrenzter Nuklearkrieg wahrscheinlicher wird. Und Westerwelle hatte den Mut, den Amerikanern beim Libyen-Krieg die kalte Schulter zu zeigen.
Der SPD-Kovorsitzende Lars Klingbeil erklärte den Grundsatz, dass Frieden und Sicherheit in Europa nur mit und nicht gegen Russland gewahrt werden können, für überholt. Wie blicken Sie auf die Entwicklung der Partei, deren Vorsitzender Sie von 1995 bis 1999 gewesen sind?
Wer in diesen Tagen meint, die Idee, Frieden in Europa könne es nur mit Russland geben, sei falsch, muss sich auf seinen Geisteszustand untersuchen lassen. Die Entspannungspolitik hat in Europa zu Frieden geführt, auch für die osteuropäischen Staaten. Dagegen hat die Politik der Konfrontation, die nach dem Fall der Mauer eingesetzt hat und die von den USA betrieben wurde, erst zum Jugoslawien- und jetzt zum Ukraine-Krieg geführt. Im Grunde genommen dürfte es nicht schwer zu begreifen sein, dass Entspannung, also der Versuch zur Verständigung, zum Frieden führt und die Konfrontation irgendwann zum Krieg. Allerdings leben wir in Zeiten großer geistiger Verwirrung.
Unter dem Titel »Ohne NATO leben – Ideen zum Frieden« findet an diesem Sonnabend ein Kongress in Berlin statt, auf dem Sie als Referent über den Ukraine-Krieg sprechen werden. Die Herausforderungen für die deutsche Friedensbewegung haben Sie umrissen. Wird sie denen in ihrer aktuellen Verfassung gerecht?
Nein. Aber bei vielen ist die Besorgnis groß, dass sich der Krieg ausweitet. Daher wäre es jetzt notwendig, in der Tradition der Friedensbewegung der 80er Jahre oder der Demonstrationen vor dem Irak-Krieg wieder in großer Zahl auf die Straße zu gehen.
Die beschriebenen Aufgaben müssten auch für die Partei Die Linke von zentraler Bedeutung sein. Im März haben Sie den Austritt aus der Partei erklärt, die Sie einst mitgegründet haben. Muss man diesen Schritt so verstehen, dass Sie Ihre friedenspolitischen Positionen nicht mehr dort vertreten sehen?
Nicht mehr in ausreichendem Maße. Es gab immer wieder Versuche, als Partei »regierungsfähig« zu werden. Einige wollen das Programm dahingehend ändern, dass man von der UN mandatierte Kriege unterstützt und die Frage von Waffenlieferungen von Fall zu Fall entscheidet. Viele Jahre lang liefen diese Versuche ins Leere. Als Scholz dann in seiner Bundestagsrede die »Zeitenwende« ankündigte, gab es in der Fraktion den Vorstoß von Abgeordneten um den ehemaligen Fraktionsvorsitzenden Gregor Gysi und die damalige Parteichefin Susanne Hennig-Wellsow, dem Aufrüstungsantrag zuzustimmen. Gott sei Dank haben sich im letzten Moment noch diejenigen durchgesetzt, die für die Ablehnung dieses Antrags plädiert haben. Allerdings zeigt die Diskussion in der Partei danach, dass weiter versucht wird, Die Linke auf einen ähnlichen Kurs wie die SPD und die Grünen zu bringen. Wenn die Weichen auf dem Parteitag Ende Juni wirklich so gestellt werden, dann hat sich die Partei erledigt.
Sie scheinen nicht davon auszugehen, dass die linken Kräfte innerhalb der Partei noch das Ruder herumreißen können.
Es gibt immer noch eine Chance. Aber dafür muss begriffen werden, dass es darum geht, wie die Wählerinnen und Wähler die Politik der Linkspartei beurteilen – nicht darum, welches Grüppchen eine Mehrheit auf dem Parteitag organisiert. Es gibt nicht nur in der Partei Die Linke den großen Irrtum zu glauben, es sei Demokratie, wenn man in internen Auseinandersetzungen eine Mehrheit findet. In der Demokratie muss die Mehrheit aber bei der Bevölkerung gefunden werden, nicht auf Parteitagen.
Ohne die breiten Proteste gegen die »Agenda 2010«-Politik wären die ersten erfolgreichen Jahre der Partei Die Linke nicht möglich gewesen. Das war eine besondere historische Ausgangslage. Die gegenwärtigen Verhältnisse geben Anlass zu Zweifeln, dass alsbald eine neue linke Partei in den Bundestag gewählt werden könnte.
Dort, wo linke Politik erfolgreich ist, wird auch das richtige Programm vertreten. Als wir uns in erster Linie für die Interessen von Arbeitnehmern eingesetzt haben – ohne dabei den Klimaschutz aus den Augen zu verlieren –, hatten wir Erfolg. Seit diese Politik vor einigen Jahren geändert wurde, verlieren wir die Wahlen. Die Schlüsse, die daraus zu ziehen sind, liegen doch auf der Hand. Es ist geradezu lächerlich anzunehmen, dass es kein Potential für eine Partei gibt, die die Bewahrung des Friedens und die sozialen Anliegen in den Vordergrund rückt. Vor allem wenn man sieht, in welchem Ausmaß die sozial Schwächeren durch die törichte Politik der Bundesregierung jetzt der Verarmung ausgesetzt sind. Eine linke Partei, die die wirklichen Interessen der Mehrheit der Bevölkerung vertritt, hätte jetzt mehr Zustimmung als die Grünen. Die Besserverdienenden sind nicht in der Mehrheit.
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